Das Bessere der Feind des Guten?
Wiesbaden. Die ESC-Leitlinie zu Diabetes, Prädiabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen, die in Zusammenarbeit mit der EASD erstellt wurde, hat eine Debatte losgetreten. Diabetologen und Kardiologen diskutieren seit der Veröffentlichung vor allem über die optimale medikamentöse Strategie bei Typ-2-Diabetespatienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko. Bleibt Metformin erste Wahl? Oder sollen Hochrisikopatienten in erster Linie mit SGLT2-Inhibitoren bzw. GLP1-Rezeptoragonisten behandelt werden? Diese Diabetesmedikamente senken zwar auch den Blutzucker, die günstigen Effekte, die in großen Outcome-Studien nachgewiesen wurden, dürften aber maßgeblich auf hämodynamische Mechanismen zurückzuführen sein. Von einer Aufgabe des glukosezentrierten Weltbildes wird vor diesem Hintergrund bereits gesprochen. Ist das wirklich so? Der Diabetologe Professor Dr. Michael Nauck und der Kardiologe Professor Dr. Michael Lehrke nehmen Stellung.
Herr Professor Nauck, die ESC/ EASD-Leitlinie sorgt für heftige Diskussionen. Was genau ist da los?
Professor Dr. Michael Nauck: Wir haben im Moment die unglückliche Situation, dass diese neue Leitlinie, die von der ESC initiiert und gemeinsam mit Vertretern der EASD entwickelt wurde, in essenziellen Punkten einer EASD/ADA-Empfehlung2 aus dem vergangenen Jahr widerspricht. Innerhalb von kaum einem halben Jahr hat die EASD damit widerstreitende Empfehlungen ausgesprochen, die auf derselben Evidenzbasis beruhen. Das ist schwer verständlich.
EASD und ADA empfehlen in ihrem gemeinsamen Strategiepapier grundsätzlich – wenn keine Kontraindikationen bestehen – Metformin als Erstlinientherapie. Und je nach individueller Risikokonstellation soll Metformin mit SGLT2-Inhibitoren bzw. GLP1-Rezeptoragonisten kombiniert werden. Die ESC/ EASD-Guideline dagegen stellt die kardiovaskuläre Erkrankung bzw. das kardiovaskuläre Risiko ganz in den Vordergrund und propagiert bei betroffenen Typ-2-Diabetikern als Erstlinientherapie SGLT2-Inhibitoren bzw. GLP1-Rezeptoragonisten, die kardiovaskuläre Risiken laut großen Outcome-Studien nachweislich reduzieren. Was aus meiner Sicht fragwürdig ist, denn diese Outcome-Studien waren durchweg keine Monotherapiestudien, sondern wurden alle vor dem Hintergrund anderer Diabetesmedikamente durchgeführt. Das heißt: Die große Mehrzahl der Studienteilnehmer erhielt SGLT2-Inhibitoren bzw. GLP1-Rezeptoragonisten in Kombination mit Metformin.
Wie lassen sich die widersprüchlichen Empfehlungen der EASD erklären? Es wird ja kaum innerhalb eines halben Jahres ein Sinneswandel erfolgt sein...
Prof. Nauck: Nein, das wohl nicht. Da haben einfach zeitnah zwei unabhängige Prozesse stattgefunden, an denen jeweils EASD-Vertreter beteiligt waren. Und man hat schlichtweg verabsäumt, die Ergebnisse abzugleichen.
Die positiven Outcome-Effekte von SGLT2-Inhibitoren bzw. GLP1-Rezeptoragonisten sind nach aktuellem Verständnis nicht der Blutzuckersenkung zuzuschreiben, sondern anderen Wirkmechanismen, die im letzten Detail noch gar nicht geklärt sind...
Prof. Nauck: Das ist ein schwieriges – abendfüllendes – Thema. Es ist richtig, dass wir über multiple Mechanismen diskutieren und die entscheidenden Mechanismen noch nicht identifizieren konnten. Ich möchte im Moment aber nicht ausschließen, dass auch die Blutzuckersenkung einen Einfluss hat.
Und die Argumente, die Metformin zum unumstrittenen First-Line-Antidiabetikum gemacht haben, sind angesichts der neuen Outcome-Studien null und nichtig? Was ist mit der UKPDS-Studie, die bei der aktuellen Diskussion in die Schusslinie geraten ist?
Prof. Nauck: Die UKPDS war schon sehr entscheidend für die positive Bewertung von Metformin. Damals war die UKPDS eine bahnbrechende Studie und die beste Evidenz, die wir hatten. Aber das ist gut 20 Jahre her und es ist sicher richtig, dass die kardiovaskulären Outcome-Studien mit den neueren Wirkstoffen eine deutliche höhere Qualität besitzen. Das ist allein schon in den höheren Patientenzahlen begründet: Mehrere Tausend Patienten pro Studienarm stellen natürlich eine andere Basis dar als mehrere Hundert wie in der UKPDS.
Hinzu kommt, dass das UKPDS-Kollektiv aus Patienten mit frisch diagnostiziertem Typ-2-Diabetes bestand. Das ist eine ganz andere Population als die kardiovaskulären Hochrisikopatienten der neuen Outcome-Studien. Bevor man ein Urteil fällt, was denn nun besser ist für Typ-2-Diabetiker mit hohem kardiovaskulärem Risiko, müsste eigentlich erst eine vergleichbare Metformin-Studie her. Aber ob man eine solche Studie auf den Weg bringen wird, ist zu bezweifeln. . .
Wie kommt man dann aus dieser Nummer wieder raus?
Prof. Nauck: Ich plädiere dafür, die Kontroverse erst einmal in aller Ruhe auszudiskutieren. Aktuell würde ich Patienten mit Typ-2-Diabetes und hohem kardiovaskulärem Risiko Metformin und eine der neueren Substanzen als Kombinationstherapie geben. Das würde die Outcome-Studien sehr viel besser widerspiegeln und wäre in jeder Hinsicht die eleganteste Lösung.
Herr Professor Lehrke, die ESC-Guideline empfiehlt bei Typ-2-Diabetespatienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko SGLT2-Inhibitoren bzw. GLP1-Rezeptoragonisten als Erstlinientherapie. Und was ist mit den Argumenten, die Metformin lange zum unumstrittenen First-Line- Antidiabetikum gemacht haben?
Professor Dr. Michael Lehrke: In den letzten Jahren hat sich die Evidenz der Diabetestherapie durch die neuen Endpunktstudien deutlich verbessert. Wir haben gelernt, dass sich die Prognose von Patienten mit Typ-2-Diabetes durch die Gabe von SGLT2-Inhibitoren und GLP1-Rezeptoragonisten verbessern lässt. Das wurde weitestgehend konsistent in großen randomisierten Studien bestätigt, in denen jeweils zwischen 650 und 1300 kardiovaskuläre Ereignisse unter Einschluss von mehreren Tausend Patienten bewertet wurden. Deshalb wurde in der Leitlinie für diese Medikamente eine 1A-Empfehlung ausgesprochen.
Der Nutzen einer Metformin-Therapie bei Patienten mit Typ-2-Diabetes wurde bisher nicht in vergleichbarer Weise überprüft. Die positive Bewertung von Metformin leitet sich insbesondere aus einem Studienarm der UKPDS-Studie ab, in dem insgesamt 216 Ereignisse bei 342 mit Metformin behandelten Patienten und 411 konventionell behandelten Patienten auftraten. Die somit nur begrenzte Evidenz wurde in der Leitlinie mit einer Klasse 2C-Empfehlung bewertet, wobei das C für Expertenmeinung steht. Leider ist es bisher nicht gelungen, die UKPDS-Ergebnisse in einer großen Studie zu bestätigen, was unbedingt nachgeholt werden sollte. Unter Umständen schafft die neue Leitlinie hierfür erst die Möglichkeit, da es bisher als unethisch zu bewerten war, Patienten die Gabe von Metformin als Erstlinientherapie vorzuenthalten.
Die positiven Effekte von SGLT2- Inhibitoren und GLP1-Rezeptoragonisten dürften maßgeblich auf hämodynamischen Mechanismen beruhen. Ist der Blutzucker dann beim Typ-2-Diabetes gar nicht mehr die primäre Zielgröße der Therapie?
Prof. Lehrke: Der Blutzucker ist und bleibt eine wichtige Zielgröße der Therapie, was auch in der Leitlinie so zum Ausdruck kommt. Vorrangiges Ziel muss jedoch sein, die Prognose der Patienten zu verbessern. Wenn die neuen Substanzen dieses Ziel HbA1c-unabhängig erreichen, sollten wir diese Wirkstoffe auch HbA1c-unabhängig einsetzen, wenn die Patienten die Behandlungskriterien erfüllen. Nachgeschaltet bleibt die Normalisierung des Glukosemetabolismus ein wichtiges Therapieziel.
Wie halten Sie es persönlich: Wann würden Sie bei Patienten mit Typ- 2-Diabetes als Erstlinientherapie SGLT2-Inhibitoren und wann GLP1- Rezeptoragonisten einsetzen?
Prof. Lehrke: Während SGLT2-Inhibitoren insbesondere auf Herzinsuffizienz und renale Endpunkte wirken, haben GLP1-Rezeptoragonisten eine vasoprotektive Wirkung und verhindern atherosklerotische Ereignisse. Das sollte in die Therapieentscheidung eingehen.
Interviews: Ulrike Viegener