Einbeziehung der Fachgesellschaften ist „ausbaufähig“
BERLIN/TÜBINGEN. Am 23. Februar wird der Deutsche Bundestag neu gewählt; die Karten werden neu gemischt. Welche Auswirkungen könnte das auf die Gesundheitsversorgung – hier vor allem auf die Diabetologie – und auf die Prävention haben? Prof. Dr. Andreas Fritsche und Barbara Bitzer, Präsident und Geschäftsführerin der DDG, geben im Interview ihre Einschätzungen.
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diabetes zeitung (dz): „Diabetes ernst nehmen“ fordert die DDG. Von wem wird Diabetes nicht ernst genommen?
Prof. Dr. Andreas Fritsche: Dieser Zuruf „Diabetes ernst nehmen“ richtet sich an drei Akteure: Die Gesundheitspolitik sagt ja, Diabetes kommt im Krankenhaus gar nicht vor. Das stimmt nicht: Jeder fünfte Patient im Krankenhaus hat Diabetes. Und die Gesundheitspolitik sagt auch: Diabetes ist etwas, das locker vom Hausarzt behandelt werden kann. Das stimmt zum Teil natürlich. Einige Patienten können und sollen durchaus vom Hausarzt behandelt werden. Aber Menschen mit Typ-1-Diabetes, mit Insulinpumpe oder AID-System oder Diabetespatienten mit Folge- oder sonstigen zusätzlichen Erkrankungen brauchen eine hochkomplexe und ganzheitliche Behandlung durch einen Diabetologen oder eine Diabetologin.
„Diabetes ernst nehmen“ richtet sich auch an eine Diabetologin oder einen Diabetologen. Diabetes wird in meiner Wahrnehmung im Studium, im ärztlichen Alltag und auch in der Weiterbildung unterschätzt und reduziert auf „ein bisschen erhöhter Zucker“. Das verstehe ich nicht unter „ernst nehmen“. Es wird dann nur ein erhöhter Laborwert behandelt und nicht die komplexe, individuell bestehende Erkrankung. Und zum Schluss richtet sich dieser Zuruf auch an die Gruppe der Patienten. Sie dürfen den Diabetes nicht verdrängen, sondern sollen die Erkrankung ernst nehmen, aber natürlich nicht zu ernst – denn das ist auch nicht gut.
dz: 2020 wurde die Nationale Diabetesstrategie verabschiedet. Die damit verbundenen Hoffnungen sind bis jetzt enttäuscht worden. Was sollte die neue Regierung anpacken?
Barbara Bitzer: Die Nationale Diabetesstrategie hat sich als zahnloser Tiger herausgestellt. Sie enthielt viele Absichtsbekundungen und hehre Ziele, aber nur wenige konkrete Maßnahmen. Dabei ist das Thema wirklich ernst: Diabetes verursacht nicht nur ganz viel menschliches Leid, sondern entwickelt sich auch zunehmend zu einem Wirtschaftsfaktor mit extrem hohen Kosten, nämlich etwa 30 Milliarden Euro Exzesskosten in Deutschland pro Jahr. Daher halten wir es für ganz wichtig, dass die Nationale Diabetesstrategie wiederbelebt, aber mit konkreten Maßnahmen hinterlegt wird.
dz: Welche Hoffnungen haben Sie, dass eine künftige Landwirtschafts-ministerin oder -minister mehr erreichen wird als Minister Cem Özdemir?
Bitzer: Große Hoffnung setzen wir in dieser Hinsicht vielleicht nicht in eine CDU-geführte Regierung, zumal in den Wahlprogrammen schon Maßnahmen wie Lenkungssteuern ausgeschlossen wurden. Aber die Hoffnung ist das eine. Wir sehen die absolute Notwendigkeit für derartige Maßnahmen der Verhältnisprävention. Und natürlich werden wir weiterhin appellieren und auf diese Notwendigkeit wirklich eindringlich hinweisen, ins Gespräch gehen und auch versuchen, die neue Regierung in die Richtung zu treiben, dass derartige Maßnahmen wichtig sind.
Die Einschränkung von Werbung an Kinder für ungesunde Lebensmittel ist eine sehr wichtige Maßnahme und wurde bereits auf den Weg gebracht. Wir appellieren an die neue Regierung, diesen Weg fortzusetzen und nicht alles, was die Vorgängerkoalition schon auf den Weg gebracht hat, in der Schublade verschwinden zu lassen.
dz: Welche Punkte der Krankenhausreform sind für die DDG entscheidend, wenn es um die adäquate Diabetesversorgung geht?
Prof. Fritsche: Ich möchte zwei Punkte herausgreifen. Das sind zum einen die Leistungsgruppen. Eine dieser Leistungsgruppen ist die „komplexe Diabetologie und Endokrinologie“, und die müssen wir so ausgestalten, dass sie für Patienten geeignet ist. Wir müssen erreichen, dass hoch leistungsfähige, von der DDG zertifizierte Diabeteszentren auche ohneeine spezielle Endokrinologie überleben können. Und wir müssen auch sehen, dass die Leistungsgruppe „Allgemeine Medizin” diabetologisch basiert ist, denn, wie schon erwähnt: Im Krankenhaus hat mindestens jeder fünfte Patient Diabetes und diese Menschen müssen diabetologisch versorgt werden.
Der zweite Punkt ist die Finanzierung, die noch völlig offen ist. Die Krankenhausreform ist unterfinanziert und wir wissen, dass wir für die nächsten zehn Jahre einen „Transformationsfonds“ brauchen. Von den vorgesehenen 50 Milliarden sollen die Hälfte die gesetzlich Versicherten aufbringen. Dagegen wird wahrscheinlich noch geklagt werden. Meine Überzeugung ist: Wir werden einfach nicht mehr so viel Geld zur Verfügung haben.
Im Gesundheitswesen haben wir auf der einen Seite eine Über-, auf der anderen Seite eine Unterversorgung. Wir müssen unsinnige Untersuchungen und Therapien, die nur gemacht werden, um Gewinn zu generieren, reduzieren. Wir brauchen mehr präventive Medizin und weniger Reparaturmedizin. Und eine gute Diabetesbehandlung ist präventive Medizin. Sie ist relativ günstig und verhindert Folgeerkrankungen und somit eine teure Reparaturmedizin.
dz: Außer der Krankenhausreform gab es weitere Gesetzesvorhaben. Was davon sollte die nächste Bundesregierung aufgreifen und umsetzen?
Prof. Fritsche: Allgemein sollte man diese Gesetze von Anfang an in enger Kooperation mit Fachleuten, also mit Praktikern, die im Krankenhaus oder in der Praxis arbeiten, gestalten. Und diese Einbeziehung der Fachgesellschaften, die ist wirklich verbesserungs- und ausbaufähig. In den sogenannten Expertenkommissionen der Krankenhausreform waren keine praktisch tätigen Mediziner beteiligt, sondern nur sogenannte politiknahe Gesundheitsökonomen. Die sind auch wichtig, aber das gibt eine Richtung vor, die nicht förderlich ist.
dz: Die DDG hat Wahlprüfsteine formuliert, um die Positionen der Parteien abzufragen. Was hat sich herauskristallisiert?
Bitzer: Wie zu erwarten war, sind die Vertreter der Grünen und auch der SPD meist auf unserer Linie, wenn es um verbindliche Präventionsmaßnahmen geht. Bei der Union und vor allen Dingen bei der FDP sehen wir da ganz viel Gegenwind. Bei der Union positioniert man sich ganz offen nicht dafür – im Wahlprogramm werden Lenkungssteuern ausgeschlossen. Trotzdem ist das für uns ein Ansporn, auch weiterhin auf diese Belange hinzuweisen und weiterhin die Politik in die Pflicht zu nehmen, etwas zu tun, ganz egal, wer die neue Regierung stellen wird. Die Gesundheit sollte mehr wert sein als die Interessen von Lebensmittel- oder Werbeindustrie.
dz: Glauben Sie, dass Sie da wieder ganz von vorne anfangen müssen?
Bitzer: Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten wurde vor 15 Jahren von der DDG gegründet, und ihr gehören inzwischen 22 medizinische Fachgesellschaften und Organisationen an, die sich auf vier zentrale Forderungen geeinigt haben. Und über diese Forderungen reden wir seit 15 Jahren mit der Politik, mit befreundeten Verbänden, in der Gesamtgesellschaft, machen sehr viel Presse- und Medienarbeit. Inzwischen nehmen wir in der Gesamtbevölkerung sehr, sehr viel Zuspruch wahr. Ich glaube, der Stein ist ins Rollen gebracht, und dass Themen wie ein Kinderlebensmittelwerbegesetz in einen Koalitionsvertrag Einzug gehalten haben, war ein ganz wichtiger Schritt.
dz: Welche Rolle spielen Allianzen?
Bitzer: Allianzen erhöhen die Schlagkraft und die Sichtbarkeit. Wir gehen in verschiedenen Bereichen Allianzen ein, z. B. mit dem BVND, dem VDBD oder auch mit der starken Patientenstimme diabetesDE. Es ist ganz wichtig, dass die Diabetesverbände eng zusammenstehen. Dass wir mit einer Stimme sprechen und unsere Belange an die Politik adressieren, gelingt im Moment so gut wie wahrscheinlich vorher noch nie.
Interview: Michael Reischmann, Nicole Finkenauer