Wechselbeziehungen zwischen Emotionen und Essverhalten
BERLIN. Essen ist ein intuitives Grundbedürfnis. Doch für Menschen mit Diabetes ist die Nahrungsaufnahme immer mit vielen Überlegungen verbunden, die manchmal auch pathologische Züge annehmen können. Dann sind Psychodiabetolog*innen und Diabetesberater*innen gefragt, den Wechselwirkungen zwischen Psyche und Somatik auf die Spur zu kommen und Menschen bei den nötigen Verhaltensänderungen zu begleiten.

Zu den Einflussfaktoren, die das Ernährungs- und Essverhalten prägen, zählte Larissa Haag, Psychologische Psychotherapeutin aus Pfaffenhofen, das Wissen über die Erkrankung, etablierte Routinen im Alltag, Ängste (etwa vor Gewichtszunahme oder Hypoglykämien), Zeitdruck und Stress und das soziale Umfeld – „da geht es z. B. um die soziale Erwünschtheit, also wie es von anderen Menschen aufgenommen wird, wenn jemand am Tisch Insulin spritzt.“ Doch auch die finanziellen Möglichkeiten – Stichwort Einkauf gesunder Lebensmittel – und die Behandlungsform spielten eine Rolle. Daneben hob sie die unterschiedlichen Ernährungsformen und die Selbstwahrnehmung von Menschen mit Diabetes hervor: „Spüre ich, wenn ich satt bin? Wenn ich eine Hypoglykämie habe?“
Fallbeispiel: Fixierung auf „gesunde“ Ernährung
Die Psychologin verdeutlichte diese Komplexität anhand des Fallbeispiels einer 23-jährigen Frau mit Typ-1-Diabetes, die wegen anhaltender Antriebslosigkeit, Interessenverlust und Freudlosigkeit ihre Praxis aufsuchte. Sie hatte sich sozial zurückgezogen und berichtete von einem restriktiven Essverhalten mit rigiden Regeln. „Alles war in ‚gute’ und ‚schlechte’ Lebensmittel eingeteilt, die Patientin zeigte außerdem eine ausgeprägte Angst vor Gewichtszunahme und Hypoglykämien“, berichtete Haag. Dies führte dazu, dass sie sich ausschließlich von selbstgekochten Mahlzeiten ernährte – Ausgehen oder spontane Verabredungen zum Essen waren bei dieser Form der Ernährung nicht möglich. Sie lebte in ständiger Sorge, wie die Ernährung die Gesundheit und den Diabetes beeinflussen könnte, dennoch lag ihr HbA1c zu Beginn der Therapie bei 8,5 %.
Für die Psychologin sah alles nach einer sog. Orthorexia nervosa aus, also eine krankhafte Fixierung auf „gesunde“ Ernährung. „Das ist allerdings noch keine eigenständige Diagnosekategorie, wird daher anders kodiert“, betonte Haag. Es wurden daher u. a. eine rezidivierende depressive Störung, Dysthymia und eine Anorexia nervosa diagnostiziert. „Menschen mit Diabetes essen ohnehin nicht mehr intuitiv, da ist immer viel Nachdenken dabei“, so die Referentin. „Doch meine Patientin war in ständiger Sorge, wie sich das Essen auf ihren Blutzucker auswirken könnte. Sie verzichtete z. B. auf Öl, um die Verzögerung des Blutzuckeranstiegs durch Kohlenhydrate zu vermeiden.“ Für eine gestörte Körperwahrnehmung sprach, dass die Patientin bei 178 cm Körpergröße nur 53 kg wog, sich aber selbst als zu dick empfand.
Die Therapie umfasste kognitive Umstrukturierung und Expositionsübungen, die der Frau halfen, ein intuitiveres Essverhalten zu entwickeln und ihre Ängste zu reduzieren. „Wir haben z. B. gemeinsam Hypothesen aufgestellt, wie sich ein bestimmtes Essen mit anschließender Bewegung auf den Blutzucker auswirken wird, und diese Hypothesen dann überprüft. Die Patientin selbst schätzte, dass sie nach einem Sandwich mit Belag, zwei Einheiten Insulin und einem Spaziergang bei einem Glukosewert von 60 mg/dl ankommen würde – tatsächlich lag dieser aber dann bei 120 mg/dl.“ Die Behandlung dauerte anderthalb Jahre. Am Ende hatte die Frau 4 kg zugenommen, aß deutlich vielfältiger und intuitiver, hatte mehr Sicherheit im Umgang mit niedrigen Glukosewerten und ihr HbA1c auf 7,8 % reduziert.
Essverhalten und Emotionen beeinflussen sich
Dr. Nicola Haller, Diabetesberaterin und Medizinpädagogin aus Augsburg, widmete sich der Ernährungspsychologie. Dr. Haller riet dazu, sich auch in der alltäglichen Beratung in Diabetespraxen gezielt nach äußeren Reizen zu erkundigen, die das Ess- und Ernährungsverhalten der Patient*innen beeinflussen. So könnten z. B. Veränderungen im sozialen und beruflichen Umfeld zu signifikanten Veränderungen der Essgewohnheiten führen.
Besonderes Augenmerk lenkte sie auf das emotionale Essen, also die Nahrungsaufnahme als Reaktion auf positive oder negative Einflüsse: „Mit dem Essen, das eigentlich gar nicht vorgesehen war, wollen die Menschen dann bestimmte Emotionen überdecken. Emotionen verändern das Essverhalten – und das Essverhalten verändert Emotionen.“ Zum Schutz vor ungesunden Extremen sollten vier Verhaltensweisen vermieden werden: Essen als Belohnung, gegen Schuldgefühle, als Strafe und aus Frust.
Mahlzeiten fotografieren, mit den CGM-Kurven kombinieren
Wer ständig über sein Essverhalten nachdenkt und sich zum Verzicht zwingt, sei anfälliger für Störungen der Sättigungsregulation und Konzentration, Heißhungeranfälle, Bulimie und Depressionen. Neben den persönlichen Einstellungen empfahl Dr. Haller, auch über den Stellenwert im Alltag zu sprechen: „In welchen Settings essen Sie? Wie oft treffen Sie Freunde und essen zusammen? Nehmen Sie sich Zeit für Kochen und gemeinsame Mahlzeiten? Was ist Ihnen beim Essen wichtig?“
Daneben helfen Ernährungsprotokolle, einen Überblick zu bekommen. „Manche Menschen sind buchhalterisch veranlagt und schreiben gern alles auf“, so Dr. Haller. Bei anderen, die nicht schreiben mögen, habe sie gute Erfahrungen mit der Fotodokumentation gemacht: „Das funktioniert gut und wird auch gut gemacht.“ Daneben hält sie viel davon, Fotos vom Essen zusammen mit den Glukosekurven eines CGM-Systems zu dokumentieren: „Das entfaltet einen ungeheuer großen Effekt auf das Verhalten.“
Antje Thiel
Diabetes Kongress 2024