»Neue große potenzielle Risikogruppe«
Düsseldorf. Gibt es einen Zusammenhang zwischen einer leichten COVID-19-Erkrankung und der späteren Diagnose eines Typ-2-Diabetes? Darauf hin deutet die aktuelle Studie „Incidence of newly diagnosed diabetes after COVID-19“.1 Wir sprachen mit Erstautor Prof. Dr. Wolfgang Rathmann vom Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ), Leibniz-Zentrum für Diabetes-Forschung (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf). Die Studie zeigt eine große potenzielle Risikogruppe für Typ-2-Diabetes (s. S. 9).
Herr Prof. Rathmann, Sie sind Erstautor einer aktuellen Studie des Deutschen Diabetes Zentrums, die den Zusammenhang von COVID-19 und Diabetes untersucht. Was war der Anlass, gab es einen Anfangsverdacht?
Prof. Dr. Wolfgang Rathmann: Es gab eine Reihe klinischer Studien, die gezeigt hatten, dass SARS-CoV-2 durch die Aktivierung proinflammatorischer Zytokine die Betazellen schädigen kann. Weiterhin spielen proinflammatorische Prozesse, die zu einer chronischen Entzündung im Fettgewebe führen, eine wichtige Rolle in der Pathogenese von Insulinresistenz und Typ-2-Diabetes. Es wurden neu aufgetretene Hyperglykämien und Insulinresistenz bei Patienten mit COVID-19 ohne Vorgeschichte eines Diabetes berichtet. Es ist jedoch unklar, ob solche Stoffwechselveränderungen vorübergehend sind oder ob Personen mit COVID-19 ein erhöhtes zukünftiges Risiko für einen persistierenden Diabetes haben.
Ziel der Studie war es, das Auftreten von Diabetes nach COVID-19 bei Personen mit meist leichter Erkrankung, die in der Primärversorgung behandelt wurden, zu untersuchen.
Laut Ihrer Auswertung steigt nach COVID-19 das Diabetes-Risiko um 28 %. Sind sie überrascht?
Prof. Rathmann: Es ist erwiesen, dass ein bekannter Diabetes mit einer schlechten Prognose für COVID-19 einhergeht. Aktuelle Studien haben die Möglichkeit aufgezeigt, dass SARS-CoV-2 auch Diabetes verursachen kann. Wir fanden heraus, dass neue Fälle von Typ-2-Diabetes bei Patient*innen, die in allgemeinmedizinischen und internistischen Praxen positiv auf COVID-19 getestet wurden, häufiger auftraten als bei Patient*innen mit einer akuten Infektion der oberen Atemwege. Die Neuerkrankungsrate lag bei 15,8 gegenüber 12,3 pro 1.000 Personen pro Jahr in der Kontrollgruppe. Wir berechneten ein Inzidenzratenverhältnis von 1,28, was auf einen möglichen Zusammenhang zwischen einer leichten COVID-19-Infektion und der späteren Diagnose eines Typ-2-Diabetes hindeutet. Dies war unsere wichtigste Forschungshypothese.
Wie erklären Sie sich den Zusammenhang zwischen einer Infektion mit SARS-CoV-2 und steigenden Blutzuckerwerten?
Prof. Rathmann: Eine COVID-19-Infektion kann durch eine Hochregulierung des Immunsystems auch noch nach der Remission zu Diabetes, zu einer Fehlfunktion der Betazellen und einer Insulinresistenz führen, was das Diabetesrisiko erhöht. Darüber hinaus besteht bei einigen COVID-19-Patient*innen möglicherweise bereits vor ihrer Erkrankung ein Risiko für die Entwicklung von Diabetes aufgrund von Übergewicht oder Prädiabetes, und der Stress im Zusammenhang mit COVID-19 hat diesen Prozess beschleunigt.
Wenn 3 bis 4 von 1.000 Menschen häufiger nach COVID-19 an Diabetes erkranken als nach anderen Atemwegsinfekten: Wie groß schätzen Sie die Fallzahl der neuen Risikogruppe für Typ-2-Diabetes ein?
Prof. Rathmann: Das RKI weist aktuell 23,5 Mio. Menschen mit einer dokumentierten COVID-19-Erkrankung in Deutschland aus. Der überwiegende Anteil hatte einen leichten Verlauf der Infektion. Damit haben wir eine neue große potenzielle Risikogruppe für Typ-2-Diabetes.
Ein Typ-1-Diabetes folgte nach einer Coronainfektion hingegen selten. Überrascht Sie das?
Prof. Rathmann: Die Inzidenz von Typ-1-Diabetes wurde aufgrund der geringen Fallzahl in der Studie nicht untersucht.
Für die Studie haben Sie Daten von 70.000 Patient*innen aus einer bundesweiten Praxisdatenbank ausgewertet. Welche Parameter, außer der Coronainfektion, haben Sie für diese Stichprobe noch berücksichtigt?
Prof. Rathmann: Wir haben zusammen mit IQVIA, einem Institut für statistische Auswertung im Gesundheitswesen, eine Praxisdatenbank mit 1.171 Allgemeinmedizinern und Internisten in ganz Deutschland zwischen März 2020 und Januar 2021 ausgewertet. In den Praxen waren 35.865 Patient*innen, bei denen COVID-19 diagnostiziert wurde, im Durchschnittsalter von 43 Jahren, mit einem Frauenanteil von 46 %. Die Inzidenz von Diabetes nach COVID-19 wurde mit einer Kohorte von Personen verglichen, bei denen im gleichen Zeitraum eine akute Infektion der oberen Atemwege, aber nicht COVID-19 diagnostiziert wurde. Wir haben diese Kontrollgruppe ausgewählt, da der Zugang zu den Praxen ähnlich ist wie bei COVID-19. Weiterhin haben wir die beiden Gruppen hinsichtlich Geschlecht, Alter, Krankenversicherung, Monat der COVID-19- oder Atemwegsinfektion und Begleiterkrankungen wie Adipositas, Hypertonie, Hypercholesterinämie, Myokardinfarkt und Apoplex gematcht.
Könnten auch Bewegungsmangel und ungesündere Ernährung während der Lockdowns eine Rolle gespielt haben?
Prof. Rathmann: Die Coronapandemie hat das Ernährungs- und Bewegungsverhalten von Erwachsenen und damit auch ihr Gewicht verändert. Nach einer Studie der Technischen Universität München haben 40 % der Befragten seit dem Beginn der Pandemie zugenommen. Etwas mehr als die Hälfte bewegt sich weniger als vor der Coronakrise.
Je höher der Body-Mass-Index der Befragten, desto häufiger geben sie an, dass sie seit Beginn der Pandemie zugenommen haben. Im Durchschnitt lag die Gewichtszunahme bei 5,6 kg, bei den Befragten mit einem höheren BMI von über 30 ergibt sich sogar eine Gewichtszunahme von durchschnittlich 7,2 kg. Das spielt ebenfalls eine Rolle für das Diabetesrisiko.
Könnte es sein, dass die hohen Stoffwechselwerte nur vorübergehend auftreten – ein Typ-2-Diabetes also wieder weggeht?
Prof. Rathmann: Da die COVID-19-Patient*innen in unserer Studie nur etwa vier Monate lang beobachtet wurden, ist eine langfristige Nachbeobachtung erforderlich, um zu verstehen, ob ein Typ-2-Diabetes nach einer leichten COVID-19-Infektion nur vorübergehend ist und wieder rückgängig gemacht werden kann – oder ob es zu einer chronischen Erkrankung führt.
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft fordert ein Diabetes-Screening mit HbA1c-Messung. Bei Millionen Betroffenen ein immenser zeitlicher und finanzieller Aufwand. Sind Sie optimistisch, dass dieses Screening kommt?
Prof. Rathmann: Zunächst sollten Ärzt*innen und Patient*innen nach überstandener COVID-19-Erkrankung auch an Diabetes denken: Abgeschlagenheit, Müdigkeit und Schwäche sind Symptome, die sowohl bei Typ-2-Diabetes als auch nach einer COVID-19-Erkrankung als Corona-Langzeitfolge auftreten können. Bei Auftreten dieser Verdachtssymptome sollte nach einer Coronainfektion unbedingt auch ein Diabetes-Screening mit Langzeitblutzuckermessung durchgeführt werden. Für ein generelles Diabetes-Screening nach COVID-19 scheint mir die Datenlage noch nicht ausreichend zu sein.
Welches Studienprojekt fassen Sie als nächstes ins Auge bzw. läuft schon?
Prof. Rathmann: Wir werten derzeit longitudinale Daten von neuen Insulinverordnungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland aus und korrelieren diese Verläufe mit den COVID-19-Inzidenzen, die vom Robert Koch-Institut berichtet wurden. Damit wollen wir die Frage untersuchen, ob eine Coronainfektion direkt das Risiko für Typ-1-Diabetes erhöht. Schließlich werten wir Daten von Menschen aus, die in Praxen eine COVID-19-Impfung erhalten haben, um zu untersuchen, ob das Diabetesrisiko nach Impfung ansteigt.
Herr Professor Rathmann, herzlichen Dank für die Informationen.
Interview: Günter Nuber
1. Rathmann W et al. Diabetologia 2022; 16: 1-6; doi: 10.1007/s00125-022-05670-0