Glutenfreie Ernährung kann erst einmal warten
GIESSEN. Fast 9 % aller Kinder, bei denen ein autoimmuner Typ-1-Diabetes festgestellt wird, weisen auch erhöhte Titer von Antikörpern gegen Gewebstransglutaminase (anti-tTGA) auf. Für sie sehen die Leitlinien eine rasche histologische Zöliakie-Diagnostik vor. Doch eine aktuelle Studie zeigt, dass ein Aufschub der Diagnostik bei asymptomatischen Kindern die Prognose nicht verschlechtert. Im Interview erläutert Studienleiter Privatdozent Dr. Clemens Kamrath, Pädiater, Kinder-Endokrinologe und Kinder-Diabetologe am Uniklinikum Gießen, was diese Erkenntnisse für die Praxis bedeuten.
Was gab den Anstoß für Ihre Untersuchung zum Zeitpunkt der histologischen Diagnostik der Zöliakie?
PD Dr. Clemens Kamrath: Wenn bei einem Kind ein Typ-1-Diabetes festgestellt wird, werden häufig auch die anti-tTGA bestimmt. Bei einem hohen Titer sehen die Leitlinien vor, dass möglichst rasch eine Biopsie vorgenommen wird, um den Laborbefund abzusichern. Für das Krankenhaus ist so eine frühzeitige Abklärung praktisch: Das Kind ist nach der Diabetes-Manifestation ohnehin auf Station, da kann man die Biopsie gleich mit erledigen. Doch mein subjektiver Eindruck war immer, dass es für die Kinder und ihre Familien oft sehr belastend war, gleich zwei einschneidende Diagnosen auf einmal zu erhalten.
Studiendesign und Ergebnisse |
Wie genau äußert sich diese Belastung?
Dr. Kamrath: Die Kinder werden ja teils sogar mit einer Ketoazidose auf die Intensivstation eingeliefert. Die Diagnose des Diabetes ist für sie und ihre Eltern ein großer Schock. Sie müssen während des Krankenhausaufenthalts lernen, Kohlenhydrate zu berechnen, Insulin zu dosieren und den Diabetes in ihren Alltag zu integrieren. Dazu kommen – insbesondere bei jüngeren Kindern – auch viele organisatorische Herausforderungen, wenn es um die Betreuung in der Kita oder in der Schule geht, wenn eine Teilhabeassistenz beantragt werden muss etc. Kommt in einer solchen Situation noch eine zweite einschneidende Diagnose wie Zöliakie dazu, ist das wirklich sehr viel, was die Familien plötzlich verarbeiten müssen.
Warum empfehlen die Leitlinien denn eine frühzeitige Biopsie bei hohem anti-tTGA-Titer?
Dr. Kamrath: Eine Zöliakie kann unbehandelt zu Resorptionsstörungen und Mangelerscheinungen bei einer ganzen Reihe von Mikronährstoffen wie Eisen oder Zink führen. Dies kann sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken, vor allem bei Längenwachstum und Gewichtszunahme. Allerdings gab es bislang keine Daten dazu, ob eine frühzeitige Abklärung bei asymptomatischen Kindern mit Vorteilen für die Prognose einhergeht. Ein systematisches Screening ist aber nur dann sinnvoll, wenn die frühe Diagnose die weitere Entwicklung auch tatsächlich positiv beeinflusst.
Und einen solchen positiven Effekt hat eine frühzeitige Biopsie also offenbar nicht?
Dr. Kamrath: Genau. Sofern die Kinder zum Zeitpunkt der Diabetes-Diagnose keine Symptome einer Zöliakie aufwiesen, profitierten sie nicht von einer sofortigen Umstellung auf glutenfreie Ernährung. Es ergab sich aber auch kein Vorteil durch den Aufschub der histologischen Abklärung und den entsprechenden Start der glutenfreien Ernährung. Die entscheidende Erkenntnis für mich ist daher, dass der Abklärungszeitpunkt und Diätbeginn bezüglich einer Zöliakie bei asymptomatischen Kindern mit Typ-1-Diabetes individualisiert werden sollte.
Welche praktischen Ratschläge ergeben sich daraus für Kinder-Diabetesambulanzen?
Dr. Kamrath: Es gibt dank unserer Studie nun neben den geltenden Leitlinien auch evidenzbasierte Daten, die es den Behandlungsteams ermöglichen, individueller zu entscheiden und die Lebenssituation der Kinder und Familien stärker zu berücksichtigen. Die Umstellung auf eine glutenfreie Ernährung bedeutet ja, dass man in der Essensauswahl zum Teil erheblich eingeschränkt ist, vor allem bei Restaurantbesuchen oder beim Bestellen von Essen über Lieferservices.
Mit einer solchen zusätzlichen Herausforderung sind viele Familien in der kritischen Phase der Diabetes-Manifestation ganz einfach überfordert. Es ist gut, dass wir ihnen nun raten können, sich erst einmal weiter ganz normal zu ernähren und sich in Ruhe an den Diabetes ihrer Kinder zu gewöhnen, bis sie ihn in ihren Alltag integriert haben. Nach einem Jahr kann man sich dann um den Nachweis der Zöliakie und die Ernährungsumstellung kümmern. Dabei ist natürlich wichtig, dass sich die Patienten bis zur definitiven Diagnostik weiterhin glutenhaltig ernähren, um die histologische Untersuchung nicht zu verfälschen.
Bei welchen Patient*innen sollte man auf keinen Fall mit der Zöliakie-Abklärung warten?
Dr. Kamrath: Unsere Empfehlung betrifft ausschließlich asymptomatische Kinder und Jugendliche. Wenn das Kind Symptome zeigt, also nach glutenhaltigen Mahlzeiten Bauchschmerzen hat, oder wenn bereits eine Resorptionsstörung oder eine Mangelversorgung, z. B. eine Anämie, nachgewiesen wurde, dann sollte man die Abklärung nicht hinauszögern.
Interview: Antje Thiel
Typ-1-Diabetes mit Verdacht auf Zöliakie – kein Nachteil! Kommentar Prof. Dr. Reinhard Holl und PD Dr. Stefanie Lanzinger, Ulm Die pädiatrische Diabetologie ist aktuell ganz wesentlich durch die Einführung von Diabetestechnologie in den Behandlungsalltag geprägt. Diese spannende Entwicklung beinhaltet ein großes Potenzial für die Zukunft – andere wichtige Aspekte der Versorgung rücken aber zum Teil etwas in den Hintergrund. |