„Sicher und sorgenfrei Sport machen“
BAYREUTH. Keine anstrengende Hypoglykämie bei der Gartenarbeit, keine schwere Unterzuckerung beim Joggen, Radfahren oder danach: Vor zu niedrigen, aber auch zu hohen Werten warnt eine neue Sport-App für Menschen mit Typ-1-Diabetes – und das präzise. Entwickelt hat sie ein junges Start-up, unterstützt von Professor Dr. Othmar Moser. Der Traum: die App kostenfrei auf den internationalen Markt bringen.
Für sein Forschungsprojekt, das Menschen mit Typ-1-Diabetes neue Möglichkeiten für risikofreie sportliche Aktivitäten eröffnet, wurde Professor Dr. Othmar Moser – an der Universität Bayreuth leitet er die Abteilung für Exercise Physiology and Metabolism – vor Kurzem von der Europäischen Gesellschaft für Diabetesforschung (EASD) in Kooperation mit deren Stiftung, der EFSD, ausgezeichnet. Die Auszeichnung ist mit einer Förderung des Projekts mit 100.000 Euro verbunden Die klinischen Studien, die in das Projekt integriert sind, nimmt er gemeinsam mit Professor Dr. Harald Sourij, Medizinische Universität Graz, und Professor Dr. Nick Oliver, Imperial College London, vor. Wir sprachen mit Prof. Dr. Moser, der selbst Typ-1-Diabetes hat und Sport liebt, über seine Vision, Hypoglykämien beim Sport und im Nachgang möglichst für alle Menschen mit Typ-1-Diabetes zu vermeiden.
Für das tägliche Diabetes-Management gibt es schon gute Tagebuch-, Bewegungs- und Ernährungs-Apps für Tablet, Smartphone und als PC-Version. Was unterscheidet die neue App von allen anderen?
Prof. Dr. Othmar Moser: Mit der App werden Menschen mit Typ-1-Diabetes sorgenfrei Sport treiben können. Sie haben damit künftig die Chance, die gleichen Glukosewerte wie Menschen ohne Diabetes zu erreichen. Längerfristig führt dies hoffentlich dazu, dass deutlich mehr Menschen mit Typ-1-Diabetes physisch aktiv sind und gesünder leben. Durch regelmäßige Bewegung sinkt auch das Risiko für diabetische Folgeerkrankungen. Die App könnte damit letztlich auch zu Kostensenkungen im Gesundheitssystem führen.
Das klingt vielversprechend. CGM-Systeme machen aber heute doch schon genau das: Sie warnen vor Hypo- und Hyperglykämien. Was kann die App da besser, wo liegt die eigentliche Innovation?
Prof. Moser: Es ist klar: Sportlich aktive Menschen mit Typ-1-Diabetes erkennen heute während physischer Belastungen sofort, wenn ihr Glukosespiegel gefährlich absinkt oder auch umgekehrt, wenn er problematisch ansteigt. Dafür tragen viele von ihnen ein CGM-System, das rechtzeitig Alarm schlägt. Der wesentliche Unterschied zu unserer App und zu allen anderen Anwendungen ist: Sie kann hier noch früher und präziser eine Absenkung der Glukosewerte erkennen und gegensteuern. Die App signalisiert genau, wie viele Gramm Kohlenhydrate der Sportler oder die Sportlerin zu sich nehmen sollte, um den Glukosespiegel zu stabilisieren. Steigen die Glukosewerte zu hoch an, gibt die App an, wie viel Insulin zugeführt werden sollte. Diese Empfehlungen richten sich in beiden Fällen nach der gemessenen Geschwindigkeit, mit der sich die Glukosewerte ändern.
In der laufenden Projektstudie gehen Sie dem Zusammenspiel zwischen Unterzuckerungen und Sport auf den Grund. Wie funktioniert dieser Testlauf konkret?
Prof. Moser: Zunächst geht es darum, die App bei verschiedenen Arten der physischen Belastung zu testen. Die Messergebnisse, die wir daraus gewinnen, spielen bei der weiteren Optimierung der App eine zentrale Rolle. Mit ihren grundlegenden Funktionen ist die App ja bereits fertig entwickelt worden – von einem Start-up namens GLAICE, das Studierende der TU München gegründet haben.
Das Besondere an unserem Projekt ist, dass wir exakte klinische Empfehlungen beschrieben haben, wie man bei Typ-1-Diabetes und Sport das CGM nutzt. Das heißt: Die für die Programmierung verwendeten klinischen Richtwerte stammen aus einem Positionspapier der EASD und der Internationalen Gesellschaft für Kinder und Jugendliche mit Dia-betes (ISPAD). Das Papier ist von 2020 und ich habe es als Erstautor verfasst. Schon die Vorläuferstudien zur App konnten zeigen, dass Menschen mit Typ-1-Diabetes deutlich bessere Glukosewerte erzielen, wenn sie die in diesem Positionspapier ausgesprochenen Empfehlungen beachten. Mit diesem Algorithmus lassen sich Unter- und Überzuckerungen nahezu vermeiden.
Die Studie wird derzeit mit 22 Testpersonen in Bayreuth, Graz und London getestet, die in Gruppen betrachtet werden. Welche sind das?
Prof. Moser: Es gibt drei Testgruppen, die jeweils drei verschiedenen Sportarten nachgehen: Kraft-, Ausdauer-, Intervalltraining. Die erste Gruppe macht dies basierend auf Standardempfehlungen. Die zweite Gruppe bekommt das Positionsstatement als A4-Blatt in die Hand. Die dritte Gruppe erhält die App. Unser Effizienz-Outcome ist die Zeit im Zielbereich (70 bis 180 mg/dl) während des Sports.
Wie funktioniert die Kommunikation der App mit den gängigen CGM-Systemen – gibt es da keine zeitliche Verzögerung?
Prof. Moser: Nein – und das ist ja das Faszinierende für uns: Es gibt bislang keine App, die mit dem Sensor in Echtzeit kommuniziert. Alle anderen Anwendungen haben ein Delay von 15 Minuten und geben auch keine Therapieempfehlungen für den Sport. Spannend ist auch: Wir können die Schwellenwerte individualisieren. Das heißt: Der höchste Unterzuckerwert, den ich beim CGM eingeben kann, ist 100 mg/dl. Wir können den Alarm aber bei bis zu 160 mg/dl setzen, etwa bei Hochrisikopatienten für Hypoglykämien. Die App schlägt dann schon bei diesem Wert Alarm und gibt eine Empfehlung. Das kann kein anderes Gerät der Welt.
Welche Patient*innen sollen die App später in der Praxis nutzen, ausschließlich mit Typ-1- oder auch Menschen mit Typ-2-Diabetes?
Prof. Moser: Unsere Empfehlungen funktionieren für alle Menschen mit Typ-1-Diabetes, die eine Insulinpen- oder -pumpentherapie – auch mit einem CGM-System – haben, aber keine Hybrid- oder Closed-Loop-Systeme nutzen, bei denen alles automatisiert ist. Man darf eines nicht vergessen: Es gibt momentan auch viele Menschen, die auf eine Pen-Therapie eingestellt sind und keine Pumpe wollen. Innerhalb der Pumpengruppe gibt es ebenfalls einige, die keinen Hybrid-Closed-Loop wollen, weil sie dem System noch nicht ganz vertrauen. Die aktuelle Achillesferse von Hybrid- zu Closed-Loop sind übrigens weiterhin der Sport und das Essen. Hier setzt unsere App mit ihrem Algorithmus an. Momentan kann sie ausschließlich von Menschen mit Typ-1-Diabetes genutzt werden.
Was ist mit Typ-1-Patient*innen, die in ihrem Alltag keinen Sport machen, sondern sich nur moderat bewegen, z.B. bei der Gartenarbeit – wie kann die App hier unterstützen?
Prof. Moser: Wenn man z.B. Rasen mähen möchte, wählt man den Sportmodus der App aus und fängt an zu mähen. Für die App spielt es keine Rolle, ob man Ski fährt, Gartenarbeit macht oder einkaufen geht. So lange man physisch aktiv ist, kann die App helfen. Denn sie arbeitet nur mit dem Abfall der Glukosekonzentration. Der App ist es daher absolut egal, ob man gerade laufen oder spazieren geht. Wir haben uns für den Test bewusst die drei schwierigsten Komponenten ausgesucht – Kraft-, Intervall- und Ausdauertraining. Zudem wissen wir jetzt: Auch wenn das System extrem gereizt wird, funktioniert es einwandfrei.
Die App soll international kosenfrei im App Store, im Google Play Store etc. verfügbar sein. Gibt es schon Interesse seitens der Industrie, mit einzusteigen?
Prof. Moser: Dazu sind wir weiter im Gespräch mit den großen CGM-Herstellern. Der Bedarf an unserer App ist da, wir bekommen sehr viele Anfragen von Menschen mit Typ-1-Diabetes. Ich möchte, dass jeder Patient und jede Patientin, die daran Interesse hat, den Zugang zu dieser App erhält – for free. Das ist mein Lebenstraum.
Interview: Angela Monecke