Diabetes-DiGA auf dem Prüfstand
BERLIN/DRESDEN. Welche DiGA können Diabetolog*innen guten Gewissens verordnen oder empfehlen? Um bei der Beantwortung dieser Frage helfen zu können, hat die Kommission Digitalisierung der DDG einen Kriterienkatalog zusammengestellt. Ob damit die Bewertung digitaler Diabetes-therapien gelingt, ist noch zu erproben.
Für die Diabetestherapie sind derzeit zwei DiGA (HelloBetter Diabetes und Depression, Vitadio) dauerhaft sowie weitere (mebix, UnaHealth, glucura) vorläufig zugelassen. Auch die Tools zur Behandlung von Adipositas, zanadio und Oviva Direkt, lassen sich einsetzen. Weitere Apps oder Webanwendungen können folgen. Doch obwohl eine DiGA beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte etliche regulatorische Hürden zu Qualität, Interoperabilität, Datenschutz und Evidenz überwinden muss, ehe sie auf GKV-Kosten verschreibungsfähig wird, agieren viele Ärzt*innen zurückhaltend.
Prof. Dr. Dirk Müller-Wieland, Vorsitzender der Kommission Digitalisierung der DDG, sowie Kommissionsmitglied und DiGA-Experte Prof. Dr. Peter Schwarz, dessen Dresdner Uni-Team das Forschungsprojekt zur DiGA-Bewertung durchführt, erklären die Zurückhaltung der Verordner*innen mit der Neuartigkeit der Intervention. Auch eine „frühzeitige Stigmatisierung“ durch hohe Erstattungsbeträge in der Erprobungsphase hätten dazu beigetragen. Diese seien gut gedacht gewesen, weil dadurch die Hersteller die Möglichkeit erhalten, qualitativ hochwertige Studien durchzuführen. Doch das sei „leider sehr schnell falsch interpretiert worden“.
Mitglieder der DDG zu den Bewertungskriterien befragt
Um Praxen und MVZ bei der Entscheidung, welche App im konkreten Fall die richtige ist, helfen zu können, haben das „Team DiGA“ und die gesamte Kommission Digitalisierung begonnen, ein Bewertungssystem für Apps in der Diabetes-therapie zu entwickeln. Dieses soll praxisnah, wissenschaftlich basiert sowie transparent sein.
Dafür wurden zunächst bereits vorhandene evidenzbasierte Qualitäts- und Gütekriterien bzw. Bewertungssysteme betrachtet. Neben der ISO/TS 82304-2:2021-ppNorm als internationaler Standard für die Qualitätsbewertung von Apps waren das die deutschen Ansätze von DiaDigital (entwickelt von der AG Diabetes & Technologie der DDG) sowie der Bertelsmann Stiftung (AppQ, Trusted-Health-Apps). Unter den Gesichtspunkten Praktikabilität, Praxisnähe und Selbstauskunft durch Hersteller wurden Bewertungskriterien ermittelt. In Expertenrunden wurden diese spezifiziert, vervollständigt und in Kategorien zusammengefasst. Das ergab neun Kategorien mit 82 Items, die mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können.
Es folgte eine Befragung der Mitglieder der DDG, von denen 234 antworteten. Sie äußerten sich mithilfe einer Skala von 1 (nicht relevant) bis 5 (sehr relevant) zu den Items. Um insgesamt eine Skala von 100 Punkten für die Bewertung einer DiGA zu erreichen, wurden die Mittelwerte der Items skaliert. Da in Umfragen und Diskussionsrunden die Kriterien der Kategorien „Evidenz“ und „Ziel“ als besonders relevant angesehen wurden, werden diese doppelt gewichtet.
In der relevantesten Kategorie Evidenz wird primär die durch Studien generierte Evidenz als Grundlage einer App betrachtet. Dabei werden randomisiert-kontrollierte Studien und Metaanalysen höher gewertet werden als nicht-randomisierte kontrollierte Studien. Die Evidenzlage für verschiedene Subgruppen und Langzeiteffekte ist bisher eher niedrig, notiert die Kommission. Die Verfügbarkeit von Publikationen sowohl des Studienprotokolls als auch jeglicher Ergebnisse – inklusive negativer – werden bewertet. Mehr Studien (eines Typs) führen zu zusätzlichen Punkten und damit einer höheren Wertung der Kategorie.
Die Kategorie Ziel betrachtet die Ziele einer App, die u. a. durch primäre und sekundäre Endpunkte definiert sind. In der Diabetestherapie bedeutet das meistens die Reduktion des Langzeitblutzuckers und von Hypoglykämien sowie eine Verbesserung des Selbstmanagements.
Um eine DiGA in den Versorgungsalltag zu integrieren, ist der kontinuierliche Einbezug von Patient*innen sowie Verordner*innen, etwa in Form von Feedback- oder Post-Market-Surveillance-Studien, notwendig. Das wird in der Kategorie Entwicklung bewertet. Zugleich müssen DiGA möglichst barrierefrei nutzbar sein, was in „Nutzerfreundlichkeit“ und „Funktionalität“ zum Ausdruck kommt.
Das Implementieren digitaler Optionen ins Gesundheitswesen ist der DDG Kommission Digitalisierung wichtig. In der Kategorie Integration wird deshalb bewertet, inwiefern eine App in die Versorgung eingebunden werden kann und diese verbessert. Hierzu können automatische Datentransfers zählen als auch das Einbeziehen von Personen, die sich um die Betreuung kümmern. Auch Items der Kategorie Interaktivität bewerten den Einbezug automatisierter Prozesse, z. B. die Analyse relevanter Endpunkte und die nachfolgende Empfehlung oder sogar Anpassung der Therapie. Künstliche Intelligenz wird zudem in Kategorien wie Entwicklung oder Nutzerfreundlichkeit berücksichtigt.
Durch Items in der Kategorie Qualität werden Qualitätsmerkmale und Siegel, welche extern und nicht durch Hersteller selbst vergeben werden, registriert. Ebenso Herstellerangaben oder die Aufklärung über Nebenwirkung sowie Datenschutz in der Kategorie Transparenz.
Prof. Müller-Wieland und Prof.Schwarz betonen, dass die DDG Vorreiter mit dem geplanten Bewertungssystem ist. Dieses sei eine „gute Mischung aus evidenzbasierter Medizin und praxisorientierter Anwendungserfahrung“. Insbesondere der Ansatz, die DDG Mitglieder in die Bestimmung der Bewertungskriterien einzubeziehen, sei „vollkommen neuartig“.
Wie geht es jetzt weiter? „Wir sammeln gerade von allen DiGA-Herstellern im Diabetessektor die Daten zu allen Items in der Bewertung ein“, erläutern die beiden Ärzte. Damit kann eine erste Bewertung nach den DDG Kriterien erfolgen, die möglichst auf der Diabetes Herbsttagung vorgestellt wird. Dieser Praxistest soll zeigen, dass eine solche Bewertung funktioniert und Diskussionsgrundlage für die Frage sein kann, warum manche DiGA in der Bewertung unter Umständen voneinander abweichen.
Wie das Bewertungssystem eingerichtet werden könnte
Derzeit sind es Mitarbeitende in der Arbeitsgruppe von Prof. Schwarz, die im Rahmen eines Forschungsprojekts die Daten erheben und die Bewertung durchführen. Wenn sich das System bewährt, könnte die Bewertungsaufgabe künftig bei der DDG institutionalisiert werden. Der Ablauf wäre dann so, dass ein Hersteller den Einschluss in die Bewertungskriterien beantragt und die geforderten Daten liefert. Für die Bewertung zahlt er einen Obolus. „Dieses Thema muss aber mit dem Vorstand der DDG erst noch abgestimmt werden“, betonen die beiden Digital-Experten.
Ärger mit Hersteller, die mit den Bewertungen unzufrieden sind, erwarten sie nicht. Denn es werde ja nicht gesagt, dass eine DiGA gut oder schlecht ist, sondern es gibt einen Score bis 100 – und je höher eine DiGA eingeschätzt wird, desto mehr Kriterien erfüllt sie. Damit sei die Bewertung eher als Handlungskorridor für die Kollegin oder den Kollegen zu verstehen: Im Zweifelsfall werden sie vermutlich eine besser bewertete DiGA auswählen. Der Hersteller habe „jederzeit die Möglichkeit, eine veränderte Bewertung zu beantragen, sobald er neue Daten vorlegen kann, die eine Veränderung des Scores bedingen“.
Die wissenschaftliche Veröffentlichung von Lena Roth et al. zur DiGA-Bewertung ist bei der Kommission Digitalisierung auf der DDG Homepage abrufbar.
Das Team „DiGAs, Apps und Software“ der DDG Claudia Sahm, Dr. Matthias Kaltheuner, Dr. Jörg Simon (bis 12/2022), Dr. Jens Kröger, Dr. Hans-Martin Reuter, Dr. Marc Morgenstern, Dr. Winfried Keuthage, Dr. Oliver Schubert-Olesen, Dr. Dietrich Tews, Prof. Dr. Peter Schwarz, Sabrina Vité. |
Michael Reischmann