"Wenn das Gehirn es nicht zulässt, schafft man es kaum abzunehmen"
Wiesbaden. Viele Menschen mit Diabetes haben gleichzeitig eine Adipositas oder umgekehrt. Dem zugrunde liegt u.a. die zentralnervöse Regulation von Stoffwechselvorgängen und dem Körpergewicht. Lassen sich über natürliche Hormone wie GLP1, GIP und Glukagon womöglich bessere Therapien gegen beide Erkrankungen entwickeln?
Die molekularen Mechanismen, die von der Adipositas zum Diabetes führen – oder möglicherweise beides parallel vorantreiben –, seien zwar immer noch nicht ganz klar, erklärte Professor Dr. Matthias H. Tschöp vom Helmholtz Zentrum München, DZD. „Doch ein Medikament gegen beide Erkrankungen oder gegen Adipositas würde einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, den Typ-2-Diabetes einzugrenzen oder zu stoppen.“
Hoffnungsträger für derartige Entwicklungen reichen weit zurück. So konnte bereits 1994 Leptin im Fettgewebe der Maus identifiziert und im Verlauf dessen Bedeutung für die Regulation des Köpergewichts beim Menschen belegt werden. „Eine der wesentlichen Einsichten, die aus dieser Forschung hervorgegangen sind, ist die Tatsache, dass Leptin im Gehirn wirkt“, brachte es der Neuroendokrinologe auf den Punkt.
Auch das Peptidhormon Ghrelin – Gegenspieler des Leptins – erzielt seine Wirkungen im Gehirn, wo es z.B. den Appetit anregt und die Köperfettzunahme unterstützt. Diese Erkenntnisse überlappen sich mit Einsichten aus genetischen Studien, nach denen sich adipositasassoziierte Gene im zentralen Nervensystem verortet lassen. Infolge dessen nahm die Entdeckung eines „Anti-Adipositas-Medikaments“ Fahrt auf.
Leitthemen für die Entwicklung eines Antiadipositums
„Basierend auf diesen Einsichten und eigenen Forschungsarbeiten haben wir im Labor drei Leitthemen entwickelt“, führte Prof. Tschöp weiter aus.
- Das Gehirn muss eine Rolle spielen, wenn wir versuchen, neue Wirkstoffe gegen Adipositas und Typ-2-Diabetes zu finden.
- Die direkte Manipulation von Zielstrukturen im Gehirn, die spezifisch für Körpergewicht, Appetit, Körperzusammensetzung und Stoffwechsel verantwortlich sind, scheint schwierig zu sein. Es bestehe immer das Risiko, andere neuronale Netzwerke mit zu beeinflussen. Dies lege ein indirektes Vorgehen nahe, also Signale aus dem Magen-Darm-Bereich zu modulieren und über natürliche Hormone den richtigen Angriffspunkt im Gehirn anzusteuern.
- Ein Signal würde wahrscheinlich nicht ausreichen, so die damalige Annahme. Um transformativ etwas im Stoffwechsel zu verändern, bedürfte es einer Polytherapie – der Kombination von zwei oder sogar drei Signalen.
Darauf folgten zwei Dekaden interdisziplinärer Kollaborationen, an deren Ende es tatsächlich gelang, neue Wirkstoffe zu finden und in die klinische Entwicklung zu bringen.
So glückte es vor rund zwölf Jahren, einen dualen Agonisten für den GLP1-Rezeptor und den Glukagon-Rezeptor herzustellen. In präklinischen Modellen sei der Einsatz dieses Korezeptoragonisten seinerzeit überaus erfolgreich verlaufen: Das Körpergewicht von adipösen, insulinresistenten Mäusen nahm schneller ab als erhofft. Klinische Validierungen folgten. „Sowohl eine Verbesserung des Körpergewichts als auch des HbA1c scheint mit verschiedenen Kandidaten recht gut zu funktionieren“, kommentierte Prof. Tschöp.
„Besonders interessiert hat uns dann die Version, GLP1 mit einem GIP in ein Einzelmolekül zu bringen.“ Auch dieses „Twinkretin“ (GLP1/GIP-Rezeptoragonist) erwies sich präklinisch als effektiv. Körpergewicht und -fett konnten reduziert und der Zuckerstoffwechsel verbessert werden. Dies bestätigte sich schließlich in Humanstudien. „Inzwischen gibt es viele Moleküle in diese Richtung“, sagte der Referent. Am weitesten fortgeschritten sei die Studienlage zum dualen GLP1/GIP-Rezeptoragonisten Tirzepatid.
Vermutlich lag es auf der Hand, schließlich auch an einer Dreier-Kombination aus GLP1/GIP/Glukagon zu arbeiten, schilderte Prof. Tschöp. Diese unimolekularen Tri-Rezeptoragonisten funktionierten präklinisch wesentlich besser hinsichtlich einer Körpergewichts- und Leberfettreduktion im Vergleich zum initial entwickelten dualen Angriff. Inzwischen gibt es dazu vielversprechende Daten aus einer Phase-1-Studie mit gesunden Teilnehmenden.
Erste Zulassungen werden in Kürze erwartet
Weltweit sind mittlerweile etliche solcher Polyrezeptoragonisten in der Entwicklung. „Wir freuen uns darauf, dass es vielleicht in allernächster Zeit zu ersten Zulassungen kommen kann. So wie es aussieht, könnte dies eine wertvolle, zusätzliche Option sein für Menschen mit Adipositas und Typ-2-Diabetes“, resümierte der Experte.
Möglicherweise lassen sich daraus künftig auch Chancen für Personen mit Adipositas per se ableiten – im Sinne guter Versorgungsstrukturen für eine evidenzgeleitete und strukturierte Behandlung dieser chronischen Erkrankung. „Wenn das Gehirn es nicht zulässt, schafft man es kaum abzunehmen“, brachte es Professor Dr. Werner Kern vom endokrinologikum Ulm und Tagungspräsident der DDG, auf den Punkt.
Dr. Elisabeth Nolde
Diabetes Herbsttagung 2021