Smarte Gabel, Apps und Co
Berlin. Um die passende Insulindosierung zu finden, müssen Patienten mit Diabetes die Kohlenhydratmenge von Mahlzeiten zuverlässig abschätzen. Ob personalisierte Ernährung oder digitale Helfer – momentan werden viele Optionen diskutiert, die dieses Abschätzen erleichtern oder überflüssig machen sollen.
Stimmt man die Nahrungszusammensetzung ganz genau auf die persönliche DNA und das individuelle Darmmikrobiom ab, dann gehören postprandiale Glukosespitzen oder erhöhte Blutfette der Vergangenheit an. Auf diese Idee könnte man zumindest kommen, wenn man einschlägigen Ernährungsratgebern Glauben schenkt oder die Aktivitäten des israelischen "Personalised Nutrition Project"* verfolgt. So geht zwar bei den meisten Menschen der Blutzuckerwert nach einem Baguette-Frühstück durch die Decke, bei manchen aber lässt der Verzehr von Weißbrot den Glukoseverlauf völlig kalt.
Blutzuckerwirkung ist nicht der einzige wichtige Parameter
Wäre es deshalb nicht sinnvoll, auf Basis der ganz individuellen Gegebenheiten für jeden Menschen eine persönlich abgestimmte Ernährung zu entwickeln, um beispielsweise das Risiko für Typ-2-Diabetes zu minimieren? Professor Dr. Ram Weiss von der Hebrew University of Jerusalem ist da skeptisch. Er warnte davor, die Blutzuckerwirkung als einzig relevanten Parameter heranzuziehen: "Wenn Sie eine Serviette essen, wird das Ihren Blutzucker nicht steigen lassen. Das heißt aber nicht, dass eine Serviette ein geeignetes Nahrungsmittel ist."
Theoretisch sei es zwar möglich, für jeden Menschen die ideale Ernährungsform bzw. Mahlzeit zusammenzustellen. Allerdings ist zumindest das Darmmikrobiom ständigen Veränderungen unterworfen. "Außerdem zeigt die Erfahrung, dass es für Patienten sehr schwer ist, spezifischen Ernährungsempfehlungen konsequent und dauerhaft zu folgen", so Prof. Weiss. Von der Vision, dass wir unsere Gesundheit mit einer personalisierten Ernährung verbessern können, sind wir seiner Einschätzung nach deshalb noch recht weit entfernt.
Auf die korrekte Insulin- dosierung kommt es an
Prof. Weiss empfahl, sich auf die klinischen Outcomes zu konzentrieren, die zumindest bei Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes sehr stark davon abhängen, ob sie ihr Insulin korrekt dosieren oder nicht. "Wenn Patienten im Alltag die Kohlenhydratmenge schätzen, dann verschätzen sie sich bei industriell gefertigten Lebensmitteln um bis zu 30 % und bei selbst zubereiteten Mahlzeiten sogar um bis zu 50 %", betonte der Experte. Darüber hinaus können verschiedene Lebensmitteldatenbanken manchmal ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage geben, wie viele Kohlenhydrate ein bestimmtes Nahrungsmittel enthält.
Digitale Entwicklungen sollen Patienten unterstützen
Man hat es im Alltag nach Einschätzung von Prof. Weiss also weniger mit per se ungeeigneten Lebensmitteln zu tun, die nicht zum Individuum passen, als vielmehr mit einer ungeeigneten Insulindosierung aufgrund von Fehleinschätzungen bei der Nährstoffzusammensetzung. "Was Patienten wollen, sind also Instrumente, die sie im Alltag unterstützen, damit sie weniger selbst über diese Fragen nachdenken müssen", meinte der Referent.
Die Entwicklung derartiger zumeist digitaler Helfer beschäftigt eine ganze Startup-Industrie, wie der anschließende Vortrag von Michal Gillon-Keren zeigte. Die israelische Forscherin stellte eine ganze Reihe von Smartphone-Apps und Wearables mit Sensoren vor, die beim Erkennen der Nahrungszusammensetzung helfen sollen. "Das Problem der meisten gängigen Diabetes-Apps ist, dass der Nutzer immer noch selbst wissen und aktiv eintragen muss, was und wieviel er isst", erklärte die Referentin. Abhilfe sollen Apps wie Go-Carb schaffen, die Fotos von Mahlzeiten mit den Fotos in einer Referenz-Datenbank abgleichen und daraus die Nährstoffzusammensetzung ableiten. "Probleme hierbei sind allerdings die schlechte Bildqualität vieler Aufnahmen und unklare Portionsgrößen."
Viele Tüftler wollen daher lieber andere Sensoren nutzen, um die Nahrungsmenge und -zusammensetzung von Mahlzeiten automatisiert zu bestimmen. Beispiele sind mikroelektromechanische Systeme (MEMS), Kreiselinstrumente (Gyroskope) oder Beschleunigungssensoren, die in einem Wearable am Handgelenk getragen werden. Aus den Bewegungsabläufen der Hand soll dann auf die Menge der zugeführten Nahrung geschlossen werden können: Wie oft wird die Hand zum Mund geführt? Bewegt die Hand einen Löffel oder eher ein Stück Obst, aus dem kräftig abgebissen wird?
Bei der Umsetzung sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt
Bei manchen Devices fiel es selbst der Referentin schwer, eine ernste Miene zu wahren. Etwa als sie einen piezoelektrischen Sensor vorstellte, der unterhalb des Kiefers getragen wird und mechanische Veränderungen beim Kauen und Schlucken in elektrische Signale umwandelt. Der Nachteil des Systems: Der Sensor muss in ständigem Kontakt mit der Haut sein. Dafür muss der Anwender eine etwa zehn Zentimeter breite Halsmanschette tragen, aus der vorn ein Gewirr an bunten Kabeln sprießt, die dann zum signalverarbeitenden Empfangsgerät führen – ein Aufzug, der im Alltag vermutlich mehr Fragen aufwirft als Antworten bietet.
Selbstständig Mengen schätzen ist bisher noch die beste Option
Ebenso wie das Plenum konnte auch Gillon-Keren sich an diesem Punkt das Lachen nicht verkneifen. "Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass Leute diese Sensoren im Alltag auch wirklich würden tragen wollen." Doch auch wenn viele Prototypen heute den Praxistest noch nicht bestehen, zeigte sich die Expertin überzeugt, dass Sensoren künftig bei der Analyse der Nahrungszusammensetzung eine große Rolle spielen werden. Bis die diversen sensorgestützten Alltagshelfer einsatzbereit sind, führt allerdings wohl kein Weg daran vorbei: Menschen mit Diabetes müssen lernen, wie sich ihre Nahrung zusammensetzt und trainieren, die entsprechenden Nährstoffmengen im Alltag möglichst exakt einzuschätzen.
Innovativ oder unbrauchbar?
Bei den Schilderungen der Geräte konnte man im Publikum schon das eine oder andere ungläubige Kopfschütteln beobachten. Auch der Prototyp einer „smarten Gabel“, die mithilfe in den Griff eingebauter Sensoren Feedback zum Essverhalten geben soll, schien nur wenige Zuhörerinnen und Zuhörer zu überzeugen. Ebenso wie ein akustisches Hilfsmittel, das ähnlich wie ein Hörgerät am Brillenbügel getragen wird, Kau- und Schluckgeräusche aufzeichnet und aus diesen akustischen Signalen auf die Art der Nahrungszusammensetzung schließt.
12th International Conference on Advanced Technologies & Treatments in Diabetes (ATTD)