„Da ist noch Luft nach oben!“

Bewegung und Medikamente können neuropathische Schmerzen lindern

BERLIN.  Die schmerzhafte diabetische Polyneuropathie (SDPN) wird oft nicht erkannt bzw. nicht adäquat behandelt. Dabei existieren viele wirksame Therapieoptionen. In den kommenden Jahren ist mit weiteren Substanzen zu rechnen, die helfen. 

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Nur in etwa 60 % der Fälle wird die SDPN korrekt diagnostiziert, berichtete Dr. Gidon Bönhof, der am Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ) in Düsseldorf die Nachwuchsforschergruppe Neuropathie leitet. Auch bei der Therapie bestehe Optimierungsbedarf: Viele Betroffene erhielten nicht indizierte Medikamente oder Arzneimittel ohne ausreichenden Wirknachweis. Indizierte Substanzen würden dagegen häufig gar nicht verordnet oder unterdosiert. „Das heißt, da ist noch Luft nach oben.“

Moderne Behandlungskonzepte umfassen das Minimieren von Risikofaktoren sowie das Ausreizen der symptomatischen analgetischen Therapie inklusive innovativer Verfahren. Ein wichtiger modifizierbarer Risikofaktor sei die Glukosekontrolle: Bei Typ-1-Diabetes könne durch eine konsequente HbA1c-Senkung eine Polyneuropathie hinausgezögert oder sogar verhindert werden. „Beim Typ-2-Diabetes haben wir eine solche Evidenz leider noch nicht“, bedauerte Dr. Bönhof.

Ausblick: Diese Optionen werden derzeit erforscht
Verschiedene neue Therapieansätze durchlaufen zur Zeit Phase-2- und Phase-3-Studien und geben Hoffnung auf neue Behandlungsoptionen innerhalb der kommenden fünf bis zehn Jahre, berichtete Dr. Bönhof.
  • Die Gentherapie mit Engensis (VM202), die sich positiv auf die Nervenregeneration und die Durchblutung auswirken und deren analgetischer Effekt bis zu acht Monate nach der Injektion anhalten soll. 
  • Dem Gabapentinoid Mirogabalin wird – bei gleichem Nebenwirkungsprofil – eine bessere Reduktion des Schmerzniveaus und eine höhere Potenz als Pregabalin zugeschrieben. 
  • Andere Behandlungsstrategien setzen auf das Modulieren nozizeptiver Signalwege (z. B. durch LX9211 oder das Small Molecule NRD.E1) oder topische Anticholinergika (z. B. Pirenzepin, Oxybutinin), die im Tiermodell Schmerzen lindern und möglicherweise die Nervenfaserdichte erhöhen.
 

Auch Sport wirke der Problematik entgegen: Laut einer italienischen Studie bessern vier Stunden Training pro Woche Nervenfunktionseinschränkungen messbar. Allerdings zeigen sich die ersten Erfolge erst nach zwei bis vier Jahren. Als kausale Therapieoption bei der schmerzhaften diabetischen Neuropathie wird das Antioxidans Alpha-Liponsäure diskutiert, berichtete der Experte. Der Wirkstoff lindere neuropathische Schmerzen, allerdings nur über wenige Wochen. Langfristig stünden dagegen positive Effekte auf neuropathische Defizite im Vordergrund.

Zur symptomatischen medikamentösen Therapie der schmerzhaften diabetischen Neuropathie werden Duloxetin, Amitriptylin, Pregabalin bzw. Gabapentin, Opioide sowie Capsaicin eingesetzt. Welche Wirkstoffe im Einzelfall gewählt werden dürfen, hänge von den Vorerkrankungen ab. 

Die DDG Praxisempfehlungen propagieren einen Therapiealgorithmus auf Basis von Mono- und Kombinationstherapien. Das A und O ist Dr. Bönhof zufolge ein strategisches Vorgehen mit Nutzung sinnvoller Wirkstoffkombinationen und Dosiseskalationen. Dabei sei es wichtig, den Medikamenten ausreichend Zeit zum Wirken einzuräumen.

Capsaicinpflaster: Erstlinientherapie in Leitlinien 
Eine Therapiestrategie, die inzwischen auch in deutschen Leitlinien Erstlinientherapie ist, stellen hoch dosierte Capsaicinpflaster dar, die alle zwei bis drei Monate für ca. 30 Minuten auf die am stärksten schmerzenden Hautareale appliziert werden, so der Forscher. Capsaicin bindet an die Schmerzrezeptoren in der Haut und führt zu einer chemischen Ablation der Nervenenden. Der genaue Wirkmechanismus bei SDPN ist allerdings noch unklar.

Trotz Ausreizen von Mono- und Kombinationstherapien gelingt nur bei höchstens zwei Drittel der Betroffenen eine Schmerzreduktion um mehr als 30 %, bedauerte Dr. Bönhof. Deutlich höhere Ansprechraten (rund 90 %), bietet die tiefe (Hochfrequenz-)Rückenmarkstimulation, die bei Therapieresistenz erwogen werden kann. „Von so einer Responder-Rate können wir bei der medikamentösen Therapie nur träumen.“ Möglicherweise wirke sich die Neuromodulation auch positiv auf die Nervenfunktion aus. Ob hierdurch das Risiko für Fußulzera sinke, müsse sich allerdings erst noch zeigen. 

Dr. Judith Lorenz

Diabetes Kongress 2024