Mikrovaskulär? Makrovaskulär?
HAMBURG. So haben es alle gelernt: Bei Diabetes gibt es langfristige makrovaskuläre Komplikationen (kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie periphere arterielle Verschlusskrankheit) und mikrovaskuläre Komplikationen (diabetische Nierenerkrankung, diabetische Neuropathie und diabetische Retinopathie). So streng lässt sich das aber nicht mehr trennen.
Alle diese Komplikationen können eine mikro- und eine makrovaskuläre Komponente haben, betonte Professor Dr. Michael Roden, Direktor am Institut für Klinische Diabetologie am Deutschen Diabetes-Zentrum in Düsseldorf und DZD-Vorstand. Er trat in der Michael-Berger-Debatte für eine Änderung der Klassifikation der Diabetes-Komplikationen ein. Die traditionelle Liste von Komplikationen muss um weitere Komplikationen ergänzt werden, so Prof Roden. Mit einer Diabetes-Erkrankung ist auch ein erhöhtes Risiko für Lebererkrankungen, Infektionen, Krebs, funktionelle Einschränkungen durch Myatrophie, Sarkopenie oder Arthrose, kognitive Einschränkungen und Depression assoziiert. Diese Komplikationen der Diabeteserkrankung sind nicht notwendigerweise vaskulärer Natur. Die bisherige Klassifikation in mikro- und makrovaskuläre Komplikationen führt dazu, dass andere Komplikationen nicht genügend beachtet und damit potenzielle Behandlungschancen vergeben werden, befürchtet Prof. Roden.
Risikofaktoren: oft ähnlich, aber in der Gruppe nicht gleich
Ein weiteres Argument gegen die Unterteilung in mikro- und makrovaskuläre Komplikationen ist in seinen Augen, dass die Risikofaktoren für beide Formen der Komplikationen ähnlich sind, beispielsweise Alter, Geschlecht, Dauer der Diabetes-erkrankung, Hypoglykämien in der Vorgeschichte, Blutdruckvariabilität oder körperliche Aktivität. Auf der anderen Seite sind Risikofaktoren innerhalb einer Gruppe von Komplikationen – egal ob mikrovaskulär oder makrovaskulär – nicht immer einheitlich:
- So sind beispielsweise Adipositas, hohes C-Peptid oder Dyslipidämie zwar Risikofaktoren für eine diabetische Nierenerkrankung, nicht aber für eine diabetische Neuropathie oder Retinopathie.
- Ein hoher HbA1c-Wert (≥ 9 %) ist assoziiert mit einem erhöhten kardiovaskulären Erkrankungsrisiko, nicht aber mit einem erhöhten zerebrovaskulären Erkrankungsrisiko, zitierte er Ergebnisse einer prospektiven dänischen Studie.1
- Rauchen ist ein Risikofaktor für diabetische Neuropathie und periphere arterielle Verschlusskrankheit, aber nicht für andere mikro- und makrovaskuläre Komplikationen.
Zudem wies Prof. Roden auf die unterschiedliche Pathophysiologie bei mikrovaskulären Komplikationen hin, bei denen unterschiedliche genetische und krankheitsmodifizierende Faktoren eine Rolle für die Ausprägung von Nephro-, Retino- oder Neuropathie spielen. Dabei spielen viel mehr Faktoren eine Rolle als nur die Glukosetoxizität durch eine Hyperglykämie, sagte er. Beispielhaft berichtete er, dass in der EUROCONDOR-Studie 60 % aller Menschen mit Typ-2-Diabetes noch ohne Zeichen einer Mikroangiopathie bereits eine neuroretinale Dysfunktion und/oder Degeneration aufwiesen.2
Komplikationen beeinflussen sich gegenseitig
Zudem beeinflussen sich mikrovaskuläre auch makrovaskuläre Komplikationen untereinander. Bei Menschen mit Typ-1-Diabetes zeigte sich beispielsweise, dass fortgeschrittene mikrovaskuläre Erkrankungen, insbesondere der Niere, mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen in der Folge assoziiert sind.3 Am deutlichsten wird die Interaktion beim kardiorenalen Syndrom. Andererseits kann eine kardiovaskuläre Erkrankung auch aufgrund einer mikrovaskulären Dysfunktion vorliegen. So ist bei Patient*innen mit Myokardinfarkt angiografisch nicht immer ein Verschluss der großen Koronararterien festzustellen, aber durchaus eine Durchflussstörung in den kleinen Koronargefäßen.
Empfehlungen aufgrund individueller Komplikationsrisiken Als weiteres Argument gegen die bisherige Aufteilung in mikro- oder makrovaskuläre Komplikationen führte Prof. Roden an, dass Therapien häufig einen ähnlichen Effekt auf mikro- und makrovaskuläre Komplikationen haben, der aber ebenfalls innerhalb der beiden Gruppen nicht immer einheitlich ist. Zudem spielen für den Effekt von GLP1-Rezeptoragonisten und SGLT2-Inhibitoren auf Diabetesfolgen wie Herzinsuffizienz oder nicht-tödlichen Schlaganfall mehr als nur vaskuläre Effekte eine Rolle. „Die Antidiabetika bieten inzwischen Vorteile jenseits der Lehrbuchklassifikation“, meinte er. Das schlägt sich längst in den Empfehlungen der amerikanischen und europäischen Fachgesellschaften ADA und EASD nieder.4 Sie beziehen sich nicht mehr auf die Vermeidung von mikro- und makrovaskulären Komplikationen, sondern auf die individuellen Komplikationsrisiken des einzelnen Menschen mit Diabetes. |
Friederike Klein
EASD-Kongress 2023
Literatur:
1. Gedebjerg A et al. J Diabet Compl 2018; 32: 34–40; doi: 10.1016/j.jdiacomp.2017.09.010
2. Santos AR et al. Diabetes 2017; 66: 2503–2510; doi: 10.2337/db16-1453
3. Gubitosi-Klug R et al. Diabetes Care 2021; 44: 1499–1505; doi: 10.2337/dc20-3104
4. Davies MJ et al. Diabetologia 2022; 65: 1925–1966; doi: 10.1007/s00125-022-05787-2